Eine kritische Analyse der aktuellen Flüchtlingssituation auf dem Mittelmeer und wie unsere Gesellschaft davor die Augen verschließt. Martin Schmidt-Kortenbusch versucht der Brisanz und Scheinheiligkeit der desolaten Lage in Gedichtform nahe zu kommen.
Dichtung und Wahrheit
Schlagzeile 2025:
Putsch in Großbritannien
Dissidenten fliehen
eingepfercht in Schlauchbooten
über den Ärmelkanal.
Schläuche lassen Luft.
Wellen biegen Boote.
Motoren versagen.
In Seenot Schreie nach Rettung.
Von allen Seiten herbei
eilt Hilfe,
eine Fregatte aus Frankreich,
Hubschrauber aus Belgien,
Schnellboote aus Deutschland.
Angekommen in Europa:
Begrüßungsgeld für die
befreiten Briten
Schlagzeile 2020:
Dutzende Flüchtlinge vermisst
Afrikaner fliehen
eingepfercht in Schlauchbooten
über das Mittelmeer.
Schläuche lassen Luft.
Wellen biegen Boote.
Motoren versagen.
In Seenot Schreie nach Rettung.
Von keiner Seite herbei
kommt Hilfe.
Notrufe nach Italien und Malta verhallen:
keine Zeit, beschäftigt, nicht zuständig,
Häfen dicht, Corona.
Geflüchtete verzweifeln, verdursten, ertrinken.
Übrig Gebliebene fischt auf
die libysche Küstenwache,
schickt sie zurück
in die Folterlager.
Weiße waschen
ihre Hände
in Unschuld.
Martin Schmidt-Kortenbusch, 20.06.2020 (für die AG Flucht und Migration)