Familienzusammenführung nach Groko-Art – ein Desaster

Ein Beitrag von Martin Schmidt-Kortenbusch

„Sicherer Hafen“ Braunschweig und die Verantwortung der Bundesregierung

Auf Initiative der Seebrücke erklärte sich Braunschweig durch Ratsbeschluss vom 17.12.2018 zum „sicheren Hafen“: die europäischen Staaten werden auffordert, die Rettung von Geflüchteten aus Seenot nicht mehr zu behindern; zusätzliche Menschen auf der Flucht sollen aufgenommen werden; die Bundesregierung soll sich für die Rettung von Geflüchteten aus Seenot und klare Verteilungsregelungen einsetzen. Die Stadt Braunschweig setzte damit ein wichtiges und ermutigendes Zeichen für die Rechte von Geflüchteten. Die Umsetzung dieser Forderungen fällt aber wesentlich in die Verantwortung der Bundesregierung.

Dass private Rettungsschiffe im Mittelmeer weiter behindert werden, mag auch an anderen europäischen Staaten liegen. Aber selbst im eigenen Entscheidungsbereich kommt die große Koalition aus CDU/CSU und SPD ihrer humanitären Verantwortung völlig unzureichend nach. Das gilt zum Beispiel für Kinder und Jugendliche, die unbegleitet zu uns geflüchtet sind. Die Zusammenführung minderjähriger Geflüchteter mit ihren Familien wird verzögert oder gar verhindert.

Verzögerte und misslingende Familienzusammenführungen

Es geht um den Nachzug von Familienmitgliedern „subsidiär Schutzberechtigter“. Das sind Geflüchtete, denen keine Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt wird. Gleichwohl bekommen sie aber eine Aufenthaltsgenehmigung, weil ihnen sonst ernsthafte Gefahr droht, müssten sie in ihr Herkunftsland zurückkehren. Nach langem Hin- und Her hatte sich die große Koalition im letzten Jahr darauf geeinigt, dass ab August monatlich 1000 Familienmitglieder zur Familienzusammenführung nachziehen dürften. Die sich so für 2018 ergebende Zahl  von 5000 wurde jedoch gar nicht erreicht. Nach Angaben des niedersächsischen Flüchtlingsrats bekamen von August bis Dezember nur 2612 Familienmitglieder ein Visum für Deutschland.

Grund dafür ist aber nicht etwa fehlender Bedarf, sondern eine bürokratische Verzögerungstaktik der diplomatischen Vertretungen Deutschlands, wenn Eltern vom Ausland her einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihren nach Deutschland geflüchteten Kindern stellen. Das folgende Beispiel ist dem Verfasser aus seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im hiesigen Caritas-Migrationskreis bekannt. Zum Persönlichkeitsschutz wurden die Namen und der Ort der Erstaufnahme geändert.

Traumatisierung durch Verzögerung – das Beispiel Sami

Sami nimmt mit 10 Jahren Ende 2015 mit seinem Onkel Younes und dessen Frau Amal einen gefährlichen Fluchtweg auf sich: zu Fuß durch die Türkei, mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer nach Griechenland und per Bus und Zug durch die Länder des Balkans nach Deutschland. Sowohl Samis Vater als auch dessen Bruder Younes stehen wegen ihrer politischen Aktivitäten auf der Fahndungsliste des syrischen Regimes. So entschließen sich der Onkel Samis und seine Frau zur Flucht. Samis Eltern schicken ihren 10-jährigen Sohn mit auf deren Flucht. Das Kind soll seine Familie so bald wie möglich nach Deutschland holen. Sie sagen ihm daher zu, dass es seine Eltern in wenigen Monaten wiedersehen würde. Die Eltern halten es für selbstverständlich, dass sie später zu ihrem Sohn nachziehen dürfen. Eine gleichzeitige Flucht der gesamten Familie kommt aus finanziellen Gründen nicht in Frage.

In Deutschland

In Deutschland angekommen wird Sami ohne Anhabe von Gründen von seinem Onkel und seiner Tante getrennt und in einer Wohngruppe der Jugendhilfe in Wuppertal untergebracht. Es geht ihm dort sehr schlecht. Er weint viel und verletzt sich in der Folge selbst mit einem Rasiermesser. Erst nach fünf Monaten darf er zu Onkel und Tante ziehen. Die Nachricht, dass Sami nur subsidiärer Schutz zuerkannt wird, löst eine schwere Krise bei ihm aus. Denn der Familiennachzug subsidiär Geschützter ist durch die amtierende große Koalition noch vollständig ausgesetzt. Nach Wochen der Trauer ändert er sein Verhalten, sucht seinen Schmerz und seine Wut zu unterdrücken und verweigert sich jeglichem Gespräch über seine Eltern und über die Problematik der Trennung. Oftmals ist er noch nicht einmal dazu bereit, mit seiner Familie, die mittlerweile in den Nordirak geflohen ist, zu telefonieren. Sami hat große Angst vor der Dunkelheit. Er weigert sich, alleine zu schlafen.

Samis Ankunft in Braunschweig

Anfang 2018 zieht Sami mit Onkel und Tante nach Braunschweig um, wo zwei erwachsene Söhne von ihnen wohnen. Sami besucht im 2. Schulhalbjahr die Hauptschule in der 5. Klasse. Er ist sprachlich anderen Kindern, die vergleichbar lange in Deutschland sind, weit unterlegen. Er versteht die deutsche Alltagssprache einigermaßen gut, kann sich sprachlich aber nicht sicher ausdrücken. Dementsprechend sind seine Leistungen in allen Fächern mangelhaft bis ungenügend. Die 5. Klasse muss er als mittlerweile 14-jähriger wiederholen. Das ist natürlich mit einer sozialen Neuorientierung verbunden, da er aus seinem alten Klassenverband herausgerissen wurde. Diese gelingt ihm nicht, so dass es zu Regelüberschreitungen im Unterricht kommt. Die Schule schließt ihn nach einer Klassenkonferenz für einen Monat vom Unterricht aus. Danach bessert sich sein Verhalten, was vor allem dem beispiellosen Einsatz seines Vormunds, einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin des Caritas-Migrationskreises, zu verdanken ist. Aber was Sami mit viel Mühe und Zeit lernt, vergisst er auch schnell wieder, so dass sich schulische Fortschritte nur langsam einstellen. 

Die Familie im Nordirak

Die Situation seiner Familie im Flüchtlingslager im Nordirak wird zunehmend aussichtslos. Der Vater leidet unter Nierensteinen. Die 3000 Euro teure Operation zu finanzieren, ist aber utopisch. Bisher konnte er den Lebensunterhalt seiner Familie mit den drei kleinen Töchtern durch Gelegenheitsjobs finanzieren. Diese Möglichkeit ist nun aufgrund seiner Krankheit nicht mehr gegeben. Wovon die Familie in Zukunft lebt, ist unklar. Im Lager werden abgelaufene Lebensmittel ausgeteilt. Die Trinkwasserqualität ist schlecht. Außerdem ist die Sicherheitslage nicht so, dass die Kinder die Behausung unbegleitet verlassen könnten. 

So hat Sami zusätzlich zu dem nun fast drei Jahre währenden Trennungsschmerz mit dem Gefühl der Schuld zu kämpfen. Er lebt in Deutschland in materieller Sicherheit, während seine Familie im Irak kaum weiß, wie sie die Bedürfnisse des nächsten Tages stillen soll. Immer mal wieder hört er von Kindern, die ihre Eltern zu sich nach Deutschland holen durften. Das bedeutet für ihn, dass er nicht nur enttäuscht wird, sondern dass er die ausbleibende Familienzusammenführung als eigenes Versagen empfindet.

Die Strapazen der Bürokratie

Samis Familie muss dreimal Terminnummern im deutschen Generalkonsulat im irakischen Erbil buchen. Zweimal werden die Termin-Anträge aufgrund der veränderten Rechtslage für ungültig erklärt. Mit hohen Kosten und unter großer Gefahr reist Samis Mutter im Herbst 2018 nach Damaskus, um einen mittlerweile abgelaufenen Pass für ihren Mann durch einen neuen zu ersetzen und einen für Sami zu beschaffen. Ohne diese Dokumente ist eine erneute Terminbuchung nicht möglich. Nun bekommt die Familie endlich ihren Termin zur Antragstellung auf Visa im Generalkonsulat in Erbil. Dann heißt es aber völlig unerwartet, dass sie auch noch eine Geburtsurkunde für Sami benötigen. Warum die Familie diese Information nicht schon mit der Aufforderung, gültige Pässe vorzulegen, bekommen hat, ist nicht nachvollziehbar erläutert worden. Neben allen Verunsicherungen, die die Eltern betreffen, steht natürlich die Angst im Vordergrund, dass Samis drei jüngeren Schwestern nicht erlaubt wird, nach Deutschland einzureisen.

Die ehrenamtliche Mitarbeiterin des Caritas-Migrationskreises, die im Herbst die Vormundschaft für Sami übernahm, setzt sich mit zahllosen Mails, Telefonaten und persönlichen Gesprächen mit Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amtes und dem Generlakonsulat in Erbil für diese Familienzusammenführung ein, bisher ohne Erfolg. Obendrein sind die Mails für Menschen, die kein Jurastudium absolviert haben, oft kaum verständlich. Ob die Familie Samis in absehbarer Zeit in Deutschland zusammengeführt wird, ist offen. Jedenfalls dürfte es für die Familie im Irak schwierig werden, die geforderte Geburtsurkunde zu besorgen. Deren Beschaffung stellt für das entsprechende Familienmitglied ein hohes Risiko dar, ist teuer und bessert lediglich die Staatskasse von Diktator Assad auf. Jedenfalls ist Sami durch seine Flucht und die über dreijährige Trennung von seinen Eltern und Geschwistern nachhaltig traumatisiert. Leider handelt es sich hier um keinen Einzelfall. Den Caritas-Mitarbeiter*innen sind weitere Fälle misslingender oder verzögerter Familienzusammenführungen bekannt.

Verhinderung von Familienzusammenführungen unter Missachtung europäischen Rechts

Nach bisheriger Praxis des Auswärtigen Amtes würde, sobald Sami volljährig wird, der Antrag auf Familienzusammenführung abgewiesen. Alle Aktivitäten und Geldausgaben der Familie und ihrer Helfer*innen wären dann vergeblich gewesen. Schriftliche Anweisungen zu solch einem Verfahren verschickte das Auswärtige Amt an die deutschen Auslandsvertretungen. Auch diese Praxis führt dazu, dass die Höchstgrenze von 1000 Personen im Monat für nachziehende Familienmitglieder bei Weitem unterschritten wird.

Aber ist das rechtens? Das auch in Deutschland verbindliche Europarecht regelt diese Fragen in der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG). In einem Fall aus den Niederlanden lehnte der Europäische Gerichtshof (EuGH C-550/16 vom 12.04.2018) die Auffassung ab, dass der Anspruch auf bereits beantragte Familienzusammenführung allein wegen Erreichen der Volljährigkeit erlösche. Denn das gäbe den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, durch verzögerte Bearbeitung der Anträge die Verpflichtungen aus der Richtlinie zu umgehen. Warum das Argument, dass das Recht auf Familienzusammenführung nicht durch Verzögerungstaktik ausgehebelt werden darf, nicht auch für das deutsche Recht gelten soll, hat das Auswärtige Amt noch nicht erläutert. Es zieht sich dagegen auf das formale Argument zurück, die EuGH-Entscheidung beziehe sich auf niederländisches Recht. Es fehle eine Vergleichbarkeit mit der niederländischen Rechtslage und deshalb sei sie in Deutschland nicht umzusetzen, so das Auswärtige Amt.

Spätestens bei dieser Rechtsauffassung drängt sich der Eindruck auf, der Bundesregierung gehe es in erster Linie darum, die Zahl der monatlich nach Deutschland kommenden Migranten so klein wie möglich zu halten, koste es, was es wolle.  Auch ist es bemerkenswert, dass ein sozialdemokratisch geführtes Außenamt ein Gerichtsurteil antieuropäisch auslegt. Betonen doch CDU/CSU und SPD stets ihre Orientierung am europäischen Gedanken.

Chancenlos

Wie das Beispiel Sami zeigt, wirkt die lange Trennung von Kindern und Eltern in hohem Maße integrationshemmend. Die Beteuerungen der Bundesregierung, die Integration der Migrant*innen in Deutschland verstärkt fördern zu wollen, wirken angesichts der dargestellten Praxis scheinheilig. Schon das Aussetzen des Familiennachzugs subsidiär geschützter Geflüchteter war integrationsfeindlich und verletzte elementare Rechte von Eltern, Kindern und Jugendlichen. Angesichts der dargestellten Praxis muss auch die Quotenregelung als Mogelpackung gewertet werden, widerspricht sie doch dem von den Regierungsparteien stets hoch gehaltenen Wert der Familie. Dieser scheint nach Auffassung der Bundesregierung aber nur für deutsche Staatsbürger*innen zu gelten.

Zum Autor: Martin Schmidt-Kortenbusch ist Gesamtschullehrer im Ruhestand, ehrenamtlicher Mitarbeiter im Migrationskreis der Caritas und Mitglied der AG Integration von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN KV Braunschweig.


Der vorliegende Beitrag ist ein Meinungsbeitrag der AG Integration und vertritt nicht unbedingt die Position der Partei.

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