Ab 27.03.2017: Türkisches Verfassungsreferendum in Deutschland
Seit dem Putschversuch im letzten Sommer herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand. Tausende Menschen wurde als Putschisten, Terroristen usw. verhaftet oder entlassen – darunter Richter, Staatsanwälte, Hochschullehrer, Journalisten. Wohl 90 % der Medien sind mittlerweile unter Kontrolle der AKP-Regierung. In dieser Situation lässt man am 16.04. das Volk in der Türkei über eine Verfassungsänderung abstimmen.
Auch die stimmberechtigte Hälfte der 3 Millionen türkeistämmiger Bürger in Deutschland kann auf Antrag der türkischen Botschaft hin ab 27.03. mitabstimmen können. Die Bundesregierung hatte jedoch gedroht, diese Genehmigung zurückzuziehen, wenn Präsident Erdoğan und Regierungs- und Parteivertreter seiner AKP mit Verunglimpfungen durch Nazi-Vergleiche fortfahren und sich bei Anmeldung von Wahlkampfauftritten und Durchführung des Referendums in Deutschland nicht an deutsches Recht halten.
Was sind die wichtigsten Problempunkte in Erdogans Referendum?
Schon jetzt, im immer wieder verlängerten Ausnahmezustand, regiert Präsident Erdoğan durch Präsidialverordnungen, die mit ihrer Veröffentlichung sofort wirksam werden und vom Parlament erst im Nachhinein gebilligt werden müssen, um wirksam zu bleiben. Schon jetzt droht er Richtern mit Konsequenzen, wenn sie, wie im Fall des Chefredakteurs der regierungskritischen Zeitung Cumhurriyet, Can Dündar, nicht so urteilen, wie er will.
Die geplante Verfassungsänderung kann Erdoğans Referendum genannt werden, weil es in ihr einem roten Faden gibt: Fast alle Macht wird beim Präsidenten konzentriert, das Parlament wird entmachtet und die Richter unter die Kontrolle des Präsidenten und des Parlaments gestellt. Und das auch ohne Ausnahmezustand. (Im Folgenden beziehen sich die Zahlen auf Artikel der türkischen Verfassung)
Alle Macht dem Präsidenten
Der Präsident soll ausdrücklich und uneingeschränkt alle vollziehende oder Exekutivgewalt (104) erhalten. Er wird Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten soll mit 109 aufgehoben werden. Sämtliche bisher vorhandenen Kompetenzen des Ministerrats sollen gestrichen werden. Der Präsident selbst soll die Minister und die obersten wie die leitenden Beamten ernennen und entlassen (104), durch Präsidialverordnung Ministerien einrichten und abschaffen (106), seine, ggf. mehrere (106) Stellvertreter (109) ernennen und entlassen können. Er soll Oberbefehlshaber der Streitkräfte sein und allein über den Einsatz der Streitkräfte entscheiden (109), während er das bisher in Friedenszeiten als Vertreter des Parlaments tat, im Krieg aber der auf Vorschlag des Ministerrats ernannte Generalstabschef (117). Auch dieser soll jetzt vom Präsidenten ernannt werden und diesem verantwortlich sein.
Der Präsident wird für 5 Jahren gewählt und soll nach 101 einmal wiedergewählt werden können. Werden aber durch das Parlament Neuwahlen während seiner zweiten Amtsperiode angesetzt, soll er nach 116 noch zum dritten Mal kandidieren können. In 101 soll zudem gestrichen werden, dass er die Beziehungen zu seiner Partei abbrechen muss. Es wird somit die rechtliche Möglichkeit geschaffen, dass eine Person fast 15 Jahre lang Präsident und gleichzeitig Parteivorsitzender sein kann.
Schwächung der parlamentarischen Kontrolle
Die Gewaltenteilung zwischen Regierung (vollziehender Gewalt) und Parlament (gesetzgeberischer Gewalt), mithin die parlamentarische Kontolle der Regierung wird durch folgende Schwächung des Parlaments weitgehend ausgeschaltet:
Das Recht auf Misstrauensvoten gegen den Ministerrat, also Ministerpräsidenten und Minister, das sich ja nach Abschaffung des Amtes des Ministerpräsidenten gegen den Präsidenten richten könnte, soll mit dem 99 ersatzlos gestrichen werden. Anfragen des Parlaments sollen nur noch schriftlich eingereicht werden (98). Auch das parlamentarische Ermittlungsverfahren soll sich nur gegen den Stellvertreter des Präsidenten oder Minister, nicht gegen die Spitze der ausführenden Gewalt (Exekutive) (alter 104), den Präsidenten (98) richten. Dem Parlament wird die Aufgabe genommen, den Ministerrat zu kontrollieren (87), mithin den Ministerpräsidenten, der zu ihm gehörte (aufzuhebender 109), also der bisherigen Spitze der ausführenden Gewalt, was nach der Verfassungsänderung der Präsident wäre.
Gesetzgebung ohne Parlament
Die Gewaltenteilung und das Parlament sollen auch dadurch geschwächt werden, dass dem Präsidenten Gesetzgebung ohne das Parlament ermöglicht wird:
Er soll, soweit keine gesetzliche Regelung für ein Thema vorliegt, Präsidialverordnungen erlassen können, die sofort mit Veröffentlichung wirksam werden. Während er jetzt – im Ausnahmezustand – im Nachhinein die Zustimmung des Parlaments einholen muss, damit seine Präsidialverordnung nicht unwirksam wird, soll sie in Zukunft generell nur dann unwirksam werden, wenn das Parlament später ein abweichendes Gesetz erlässt (104). Der Präsident soll nach 104 auch Verwaltungsverordnungen zur Umsetzung aller Gesetze erlassen können, die am Tage ihrer Veröffentlichung in Kraft treten, und schließlich nach 104, wenn er es für erforderlich hält, das Volk über verfassungsändernde Gesetze abstimmen lassen können.
Gleichschaltung des Parlaments
Die Wahlperiode des Parlaments wird von 4 auf 5 Jahre wie beim Präsidenten verlängert (77). Parlamentswahlen und Wahl des Präsidenten findet am gleichen Tag statt (77), so dass in aller Regel gesichert wird, dass die Partei des Präsidenten auch die Mehrheit im Parlament hat. Die Begrenzung und die Kontrolle seiner Macht durch das Risiko, einmal mit einem Parlament mit der Mehrheit einer anderen Partei konfrontiert zu werden wie in Frankreich und den USA, werden faktisch ausgeschlossen. Er soll überdies Neuwahlen für Parlament und Präsidentenamt ansetzen (116), mithin das Parlament auflösen können. Wird aber der Präsident abgesetzt, soll nach 106 auch das Parlament nach 45 Tagen neu gewählt werden müssen.
Unabhängige Rechtsprechung durch abhängige Richter
Die nach wie vor proklamierte Unabhängigkeit der Rechtsprechung sollte in der bisherigen Verfassung durch die Zusammensetzung des Hohen Richter- und Staatsanwälterates sichergestellt werden. Dieses Gremium soll auch künftig über Einstellung, Versetzung, Beförderung, Entlassung, kurz Status und Karriere der Richter entscheiden (159). Durch Verkleinerung und Änderung der Zusammensetzung dieses Gremium wird aber faktisch die Unabhängigkeit der Richter beseitigt werden:
Bis heute hat der Hohe Rat 22 Mitglieder, bestehend aus Justizminister, Staatssekretär und Mitgliedern, die von folgenden Gremien ausgewählt werden: 4 vom Präsidenten, 3 vom Kassationshof, 2 vom Staatsrat, 1 von der Justizakademie, 7 von der ordentlichen Gerichtsbarkeit und 3 von der Verwaltungsgerichtsbarkeit (159).
Nach dem neuen 159 soll dieses Gremium auf 13 Mitglieder verkleinert werden und aus Mitgliedern bestehen, die wie folgt bestimmt werden: Justizminister und Staatssekretär, vom Präsidenten ernannt (104), 4 vom Präsidenten und 7 vom Parlament, in dem in der Regel die Partei des Präsidenten die Mehrheit haben wird (s.o.).
Der Präsident, der auch Vorsitzender der Mehrheitspartei im Parlament sein kann, wird dann ungehindert gegen Richter vorgehen können, die anders urteilen, als er will, was Erdoğan ihnen bisher nur androhen konnte.
Gesamtbewertung
Die Verfassungsänderung zielt somit auf eine weitgehende Aufhebung der Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender Gewalt (Parlament), vollziehender Gewalt (Regierung) und rechtsprechender Gewalt (Gerichten) und deren gegenseitiger Kontrolle, die Voraussetzungen eines demokratischen Rechtsstaats sind. Sie ermöglicht dagegen die Alleinherrschaft des Präsidenten, der gleichzeitig Vorsitzender der Mehrheitspartei im Parlament sein kann, mithin faktisch eine Diktatur. Eine ähnliche Änderung des deutschen Grundgesetzes anzustreben, wäre verfassungsfeindlich und von allen deutschen Staatsorganen zu bekämpfen und zu unterbinden.
Grüne: „Sagt NEIN zu Erdoğans Verfassungsänderung !“
Erdogan nimmt die Deutsch-Türken in Geiselhaft für sein Ziel, die absolute Herrschaft in der Türkei zu erreichen. Sie zahlen den Preis für die Politik der Eskalation Erdoğans. Bereits jetzt wird die doppelte Staatsbürgerschaft in Frage gestellt und die Loyalität gegenüber Deutschland bezweifelt.
Wir wollen eine freie und wirtschaftlich starke Türkei, die für alle ihre Bürgerinnen und Bürger da ist. Egal ob sie Sunniten oder Aleviten, Kurden oder Armenier, für oder gegen Erdogan sind. Wir wollen eine starke Türkei, die Anerkennung und Respekt in der Welt genießt. Notwendig ist daher ein klares „Nein“ zu Erdoğans Verfassungsänderung! Nur dieses „Nein“ bedeutet gleichzeitig ein „Ja“ zu einer Zukunft für die Türkei und für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland und Europa.
Die ganze grüne Stellungnahme zu Erdoğans Verfassungsänderung, grüne Antworten auf Fragen rund um das Referendum und die europäische und deutsche Türkeipolitik und der Video-Aufruf von Cem Özdemir „Sagt #Nein zum türkischen Verfassungsreferendum“ in deutscher und türkischer Sprache finden sich unter http://www.gruene.de/ueber-uns/2017/referendum-in-der-tuerkei-nein-zu-erdogans-verfassungsaenderung.html?pk_campaign=referendumtuerkei-auch-neu.
27.03.2017 AG Integration des Kreisverbands Braunschweig von Bündnis 90 / Die Grünen